IG Keupstraße: Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel

Die Interessengemeinschaft (IG) Keupstraße hat sich in einem Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel gewandt, um gegen die Verteilung von Postkarten der Kampagne „Vermisst“ in der Keupstraße zu protestieren. Wir dokumentieren den Brief im Wortlaut:

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

die Keupstraße in Köln-Mülheim ist eine bunt gemischte Straße. Menschen unterschiedlicher Herkunft leben und arbeiten hier. Als Interessengemeinschaft Keupstraße e.V. vertreten wir die Inhaberinnen und Inhaber von 108 Geschäften.

Unsere Straße ist aber auch der Schauplatz des schrecklichen Nagelbombenanschlags von 2004, bei dem 22 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.

Wir wissen heute, dass die Bombe von Mitgliedern des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ gezündet wurde, um möglichst viele Menschen zu töten und zu verletzen.

Es war ein rassistischer Angriff auf Menschen, denen das Recht auf Leben und einen Platz in unserer Gesellschaft abgesprochen wurde, weil sie in ihren Augen „fremd“ und „nicht-deutsch“ sind. Die Verletzungen des Anschlags wirken noch immer nach.

Ausgerechnet in der Keupstraße ließ Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich vor Kurzem die Postkarten seiner „Vermisst“-Kampagne verteilen, die für ein Angebot der „Beratungsstelle Radikalisierung“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge werben. Die Aktion ist von muslimischen Verbänden und antirassistischen Initiativen stark kritisiert worden.

Sie stellt Muslime in Deutschland unter den Generalverdacht, mit islamistischen Terrorgruppen und religiösen Fanatikern zu sympathisieren und damit eine Gefahr für die Sicherheit des Landes darzustellen. Die ungeschickte Aufmachung der Kampagne bestärkt bestehende Vorurteile und Vorbehalte, die in Teilen der Gesellschaft gegenüber Muslimen noch immer bestehen.

Dabei haben die Menschen in der Keupstraße in den letzten Jahren stark unter falschen Verdächtigungen gelitten. Die Motive für den Bombenanschlag wurden in organisierter Kriminalität, im Drogenhandel oder sogar in politischen Rivalitäten von Migrantengruppen gesucht.

Die Sichtweise und Vermutungen der Betroffenen wurden nicht ernst genommen, stattdessen wurden Ihnen Verbindungen in das „kriminelle Milieu“ unterstellt und sie so kriminalisiert. Damit wurden sie ein zweites Mal zum Opfer gemacht. 

Teilweise investierte die Polizei erheblichen Ermittlungsaufwand in die Überwachung von Angehörigen der Opfer und Anwohner. Ein rechtsterroristischer Hintergrund wurde hingegen mit Vehemenz ausgeschlossen. Spuren in diese Richtung wurden bestenfalls halbherzig verfolgt.

Die Ermittlungsmethoden der Polizei und die öffentlichen Verdächtigungen haben Narben in unserer Straße und bei den Menschen hinterlassen, nicht nur psychisch sondern auch wirtschaftlich.

Unsere Ängste und Sorgen wurden nicht ernst genommen.

Die Verteilung der „Vermisst“-Postkarten in unserer Straße ist nun ein weiterer Schlag. Wieder werden wir pauschal zu Unrecht verdächtigt. Wir staunen über die Dreistigkeit und die offensichtlich mangelnde Sensibilität, mit der über die Köpfe der Menschen in der Keupstraße hinweg eine politische Kampagne durchgezogen wird. Wir wollen dies nicht hinnehmen und wenden uns deshalb an Sie.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer bemerkenswerten Rede bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer rechter Gewalt im Februar 2012 haben Sie gesagt: „Doch Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nur Extremisten. Gefährlich sind auch diejenigen, die Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung erzeugen. Wie wichtig sind daher Sensibilität und ein waches Bewusstsein dafür, wann Ausgrenzung, wann Abwertung beginnt.“

Wir bitten Sie deshalb mit Nachdruck, sich für den Stopp der „Vermisst“-Kampagne Ihres Innenministers einzusetzen. Lassen Sie nicht zu, dass das Zusammenleben in unserem Land durch eine unbedachte Kampagne noch weiter unüberlegt belastet wird. Die Menschen in der Keupstraße brauchen Unterstützung und Hilfe bei der Verarbeitung der Anschlagsfolgen. Bitte helfen Sie uns, dass wir uns nicht weiter diffamiert fühlen, sondern unterstützen Sie uns beim Kampf gegen Vorurteile, Ausgrenzung und die Mauer der Intoleranz in den Köpfen.

Mit freundlichen Grüßen

Mitat Özdemir
Vorsitzender der Interessengemeinschaft Keupstraße e.V.

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